Hahnemann hat noch erlebt, wie sein Weg, Arzneimittel zu wählen, inbrünstigen Zuspruch ebenso fand wie empörte Ablehnung. Auch den Mittelweg gab es bereits damals, „ein wenig“ Homöopathie zu praktizieren und die gängigsten Methoden der jeweils herrschenden Universitätsmedizin ebenfalls anzuwenden. Hahnemann protestierte damals gegen die „Halbhomöopathen“, die seiner Meinung nach dem Ruf der Homöopathie mangels konsequenter Umsetzung nur schaden konnten.
Und heute? Es gibt immer mehr Menschen, die Homöopathie für sich nutzen. Obwohl viele Ärzte die Wirkung der Homöopathie negieren, wird sie von einigen Krankenkassen im Leistungskatalog geführt. Gleichzeitig mühen sich seriöse Medien wie „Der Spiegel“ schon seit Jahren, nun endgültig eine schlüssige Beweiskette für die Unwirksamkeit der Globuli (und damit der Homöopathie) darzulegen. Was macht das „Geheimnis“ der Homöopathie aus?
Der öffentliche Diskurs dreht sich quasi seit Hahnemanns Zeiten um die Frage, wie homöopathische Arzneimittel in einer höheren Potenzierung (ab D24 oder C12) mit einem nachweisbaren „Nichts“
an stofflichem Arzneimittel überhaupt noch eine Wirkung entfalten können.
Hier sind auch erfahrene Homöopathien regelmäßig in Erklärungsnot. In der täglichen Praxis ist die heilende Wirkung eines gut gewählten Mittels jedoch sichtbar und erfahrbar.
Bei der Potenzierung wird ein Arzneimittel zunächst auf einem Trägermedium verrieben, später in Wasser gelöst und verschüttelt. Im Verlauf der Potenzierung wird die Lösung immer weiter verdünnt und jedes Mal durch eine bestimmte Anzahl von Schüttelschlägen „dynamisiert“.
Hahnemann selbst war sich darüber im klaren, dass sich in diesen Zubereitungen „nur so wenig Materielles befinden kann, dass dessen Kleinheit vom besten arithmetischen Kopfe nicht mehr gedacht und begriffen werden kann“ (Hahnemann, Organon 6. Aufl.). Spätestens seit dem Jahre 1801 hat Hahnemann mit potenzierten Mitteln gearbeitet. Erst 1825 äußerte er sich öffentlich zu diesem Verfahren der „Kraftsteigerung“ und beanspruchte dessen Entdeckung für sich. Dabei wollte sich Hahnemann als seriöser und wissenschaftlich arbeitender Chemiker und Arzt verstanden wissen – und keinesfalls als Alchemist.
Bereits in seinen jüngeren Jahren als erfolgreicher Chemiker distanzierte sich Hahnemann von den „düsteren Zeiten trismegistischer Sophismen“ und damit von der alchemistischen Mystik. Doch die historische Spur derartiger Rezepturen führt in die Geschichte der Alchemie. So gehörte das intensive Verreiben und das wiederholte Verdünnen und Verrühren auch zu den Praktiken der „Scheidekunst“.
Hahnemann hatte guten Grund, den von ihm entdeckten Vorgang der Potenzierung zögerlich zu publizieren. Noch heute ist durch dieses mystisch anmutende Verfahren der öffentliche Blick verstellt auf dasjenige, was die Homöopathie im Kern ausmacht. Sein System der Anwendung von Arzneimitteln nach der Ähnlichkeit von Krankheitssymptomen mit denen der Arzneimittelprüfungen ist seine eigentliche Lebensleistung.
Seine hervorragende humanistische Ausbildung und seine Vielsprachigkeit eröffneten ihm den Zugang zu den bedeutendsten medizinischen und philosophischen Texten vom Altertum bis in die europäische Aufklärung. Kaum ein Arzt seiner Zeit hatte ein Arzneimittelwissen an vergleichbarem Umfang. Bei seinem Quellenstudium und den Recherchen zum „Apothekerlexikon“ (1793-1799), einer Materia Medica, die ihm viel Anerkennung einbrachte, fielen ihm widersprüchliche Arzneimittelbeschreibungen bei einer Vielzahl von Mitteln auf.
Für das Beispiel des Opiums war damals in Ärztekreisen bekannt, dass dieses Mittel bei einem Patienten zur Verstopfung führte und beim Nächsten Durchfall erregte. Auch, das die Dosierung der Arznei bei diesen wechselhaften Wirkungen eine wichtige Rolle zu spielen schien, war vielfach beschrieben worden. Hahnemann verglich, beobachtete, stellte erste Thesen auf und probierte schließlich einige Arzneien selbst. Schließlich entwickelte er seine eigene Theorie über die Heilwirkung von Arzneimitteln und veröffentlichte diese erstmalig im Jahre 1796 im Hufeland-Journal. Im Aufsatz „Versuch über ein neues Prinzip...“ schrieb er folgendes:
„Man ahme die Natur nach, welche zuweilen eine chronische Krankheit durch eine andre hinzukommende heilt, und wende in der zu heilenden […] Krankheit dasjenige Arzneimittel an, welches eine […] möglichst ähnliche, künstliche Krankheit zu erregen im Stande ist, und jene wird geheilet werden; Similia similibus.“
Der viel zitierte Grundsatz „Similia similibus curentur“ (lat.: Ähnliches wird durch Ähnliches geheilt) bildet bis heute die Basis der Homöopathie. Für das vorherrschende Verständnis von medizinischer Therapie werden durch diesen Satz jedoch mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben: Wieso können Arzneimittel Krankheiten erregen? Wieso können Krankheiten helfen, andere Krankheiten zu überwinden? Wieso muss diese Krankheit ähnlich sein? Im tieferen Verständnis dieses Konzeptes liegt das eigentliche Geheimnis der Homöopathie. Es ist oft genug nur unzureichend wiedergegeben und selten völlig verstanden worden.
Versetzen wir uns in die damalige Zeit zurück: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominiert in der Physiologie die Vorstellung, dass der lebende Organismus in seiner Funktionalität maßgeblich durch äußere Reizeinflüsse dominiert wird. Es gilt als modern, sich den Menschen als Maschine zu denken, die durch Reizstimulation „am Laufen gehalten“ wird. (Noch heute hat diese Theorie eine gewisse Berechtigung, wenn wir an Maßnahmen zur „Abhärtung“ denken.)
Es ist die große Zeit der Reiz-Therapien. Viele Ärzte haben erkannt, durch die Provokation einer akuten Erkrankung wie Fieber Heilungsverläufe beschleunigen zu können. Dies gipfelt jedoch in teilweise unappetitlichen Methoden. Haarseile werden unter die Haut geschoben, um eine Entzündung zu erzeugen. Anwendungen der alten Säftelehre wie Aderlässe, Brech- und Abführmittel werden nun als „Stimulantien“ gebraucht, um die „Lebenskraft“ anzuregen. Hahnemann verwehrt sich vehement gegen solche Methoden, die seiner Meinung nach die Lebenskraft nur schwächen können. Doch er beobachtet, dass der menschliche Organismus quasi in einem Automatismus auf jeden äußeren Reiz mit einer Gegenwirkung reagiert. Diese Erkenntnis wird zu einer Grundvoraussetzung des homöopathischen Konzeptes.
Durch die Prüfung von Arzneimitteln am gesunden Menschen verschafft er sich die Möglichkeit, die Wirkung der Anwendung dieser Mittel beim Patienten relativ genau vorherzusagen. Die Gegenwirkung der „Lebenskraft“ wird dabei immer einkalkuliert. In der Homöopathie wird deshalb eine „Erstwirkung“ von einer „Nachwirkung“ unterschieden. Erst vierzehn Jahre nach der ersten Veröffentlichung hat Hahnemann selbst sein Konzept „Homöopathie“ genannt. Der Lehrsatz „Similia similibus“ (lat.: Ähnliches für Ähnliches) steht als Gegensatz zum „Contraria contrariis“ (lat.: Gegensätzliches für Gegensätzliches) der damaligen (und heutigen) medizinischen Verschreibungspraxis.
Übrigens existiert auch eine Form von „unbewusster Homöopathie“. Einige Hausmittel unserer Großmütter heilten traditionell nach dem Ähnlichkeitsprinzip: So wurde das Fieber früher durch viele Decken „ausgeschwitzt“, Rachenentzündungen durch feucht-heiße Wickel gelindert und erfrorene Gliedmaßen im Winter durch Abreiben mit Schnee wieder zur Durchblutung angeregt.
Antje Langer, Redaktioneller Beitrag für den „Nordstern“ 12/2010